Eine neue Studie* wirft ein Schlaglicht auf die Situation autistischer Psychiater:innen: Viele von ihnen erkennen ihren eigenen Autismus nicht, was weitreichende Folgen für ihre Patient:innen haben kann. Die Studie des University College Dublin und anderer Hochschulen ist die erste, die sich explizit mit den Erfahrungen neurodivergenter Psychiater:innen, insbesondere autistischer Psychiater:innen, befasst und liefert wichtige Erkenntnisse.
Späte Selbsterkenntnis mit Folgen
Oftmals erkennen autistische Psychiater:innen ihren eigenen Autismus erst spät im Leben, beispielsweise durch die Diagnose des eigenen Kindes oder durch die Interaktion mit Patient:innen. Diese späte Erkenntnis kann jedoch problematisch sein, da die fehlende Selbsterkenntnis dazu führen kann, dass autistische Psychiater:innen Autismus bei ihren Patient:innen übersehen.
Die Studie zeigt aber auch: Sobald Psychiater:innen ihren eigenen Autismus erkennen und akzeptieren, verbessert sich ihre Fähigkeit, Autismus bei anderen zu diagnostizieren. Sie können dann stärkere therapeutische Beziehungen zu ihren Patient:innen aufbauen, die auf Verständnis und Empathie basieren.
Gefahr für Patient:innen
Unbehandelter Autismus bei Psychiater:innen kann zu Fehldiagnosen und verpassten Behandlungsmöglichkeiten für Patient:innen führen. Dies gilt insbesondere für neurodivergente Frauen, bei denen Autismus aufgrund unterschiedlicher Symptomatiken im Vergleich zu Männern häufig übersehen oder fehldiagnostiziert wird.
Wenn autistische Psychiater:innen ihre eigene Neurodivergenz nicht erkennen, verstärkt dies das Problem zusätzlich. Neurodivergente Frauen laufen Gefahr, dass ihre Schwierigkeiten nicht ernst genommen und ihre Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Dies kann zu einem Teufelskreis führen, in dem Betroffene keine adäquate Hilfe erhalten und ihre Lebensqualität beeinträchtigt wird.
Mehr Aufklärung und Unterstützung für autistische Psychiater:innen
Die Studie betont die dringende Notwendigkeit von mehr Psychoedukation und Unterstützung für (potenziell) neurodivergente, insbesondere autistische Psychiater:innen. Sowohl in der Ausbildung als auch in der beruflichen Praxis sollten angehende und erfahrene Psychiater:innen für die Anzeichen von Autismus sensibilisiert werden – bei Patient:innen und bei sich selbst.
Nur durch eine verstärkte Aufklärung und offene Gespräche über Neurodivergenz kann eine angemessene Versorgung für alle gewährleistet werden. Es ist wichtig, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich autistische Psychiater:innen mit ihrer eigenen Neurodivergenz auseinandersetzen können, ohne Stigmatisierung oder negative Konsequenzen befürchten zu müssen.
Darüber hinaus sollten auch Patient:innen besser über Autismus und Neurodiversität informiert werden, um ein besseres Verständnis für die Herausforderungen und Bedürfnisse neurodivergenter Menschen zu entwickeln.
Letztendlich geht es darum, eine inklusive und unterstützende Umgebung im Bereich der psychischen Gesundheit zu schaffen, die sowohl den Bedürfnissen von Patient:innen als auch den Bedürfnissen von autistischen Psychiater:innengerecht wird.
*Quelle: BJPsych Open (2024) 10, e183, 1–8. doi: 10.1192/bjo.2024.756